Elsfleth. „Ein wahres Weihnachtswunder“, so erzählt Julia Shaibel, geschah am 26. Dezember 2022. Ihre ukrainische Familie wurde in Elsfleth wieder vereint.
Mutter Julia, Vater Alexander, Tochter Melania und Oma Ludmilla lebten in Charkow, als am 24. Februar 2022 Russland die Ukraine überfiel. „Mit einer Taschenlampe in der Hand sammelten wir am frühen Morgen alle notwendigen Dinge und Dokumente und waren sehr ängstlich, unsere schlafende Tochter Melania zu erschrecken“, erzählt Julia. Die dramatischen Schilderungen der 31-jährigen Ukrainerin in den Wochen und Monaten nach Kriegsbeginn übersetzt Natalia Eisenmann. Die Landsfrau lebt seit mehr als zehn Jahren in Deutschland und arbeitet für das Deutsche Rote Kreuz (DRK), Kreisverband Wesermarsch.
„Wir wussten nicht, wie wir der sechsjährigen Tochter erklären sollten, was gerade passiert, warum sie nicht in den Kindergarten gehen kann und Mama und Papa nicht zur Arbeit“. Begleitet von Explosionen, Flugzeugüberflügen und lärmendem militärischen Gerät habe man sich in einem Luftschutzkeller mit über 50 anderen Menschen eingefunden. „Unser Verstand weigerte sich zu glauben, was gerade passiert. Das Leben kam zum Stillstand, wir verloren unsere Arbeit – und dann kam am 5. April: ich erfuhr von der langersehnten Schwangerschaft“.
Schon in den ersten Tagen nach Kriegsbeginn habe man von Freunden, die ins Ausland geflohen waren, von der „unglaublichen Unterstützung“ für Ukrainer erfahren. „Aber wir konnten uns nicht eine Minute lang vorstellen, dass wir uns trennen müssten. Mein Mann durfte wegen des Kriegsrechts die Grenze nicht überqueren“, beschreibt Julia Shaibel die Gewissensnöte. Eine in Bremen wohnende Freundin habe wegen der Schwangerschaft von Julia aber darauf gedrängt, dass sie, Tochter Melania und Oma Ludmilla die Heimat verlassen.
Am 21. Mai kamen sie in Bremen bei Freundin Alessandra an, am 23. Mai ging es weiter nach Elsfleth, wo man zunächst mit weiteren Landsleuten im alten katholischen Kindergarten wohnte. „Es waren die ersten ruhigen Nächte nach drei Monaten“, erzählt Julia Shaibel. Am 24. Juni bezog man eine kleine Wohnung in Elsfleth. Und sie trafen es gut: „Unsere Nachbarn Gerold Fastenau und Lilian Boss sind wunderbare Menschen, die uns helfen, mit dem Alltag in Deutschland vertraut zu werden“, ist Julia Shaibel dankbar. Vom DRK organisierte Treffen mit anderen Flüchtlingen, der Psychiaterin Viktoria Mihova und der Dolmetscherin Natalia Eisenmann helfen bei der Integration, halten zugleich aber die Erinnerung an die Heimat aufrecht. Denn dorthin werden die Shaibels zurückkehren, ist sich DRK-Geschäftsführer Peter Deyle sicher; „Weil das Heimweh überwiegt“.
Das nächste Datum, das sie rot in den Kalender einträgt, notierte Julia Shaibel mit dem 27. August. Melania wurde in Elsfleth eingeschult. „Es war ein Feiertag. Melania hat eine neue Schule, die sie gern besucht, und neue Freunde“.
Am 14. November 2022 kam in Oldenburg Tochter Nika zur Welt. Freundin und DRK-Mitarbeiterin Viktoriia Mihova stand Julia Shaibel bei der Entbindung bei, Dolmetscherin Natalia Eisenmann war nahezu „stand by“ telefonisch mit dem Kreißsaal verbunden. Den Namen für die neue Erdenbürgerin wählten Eltern und Freunde mit Bedacht. Nika ist die erste in Deutschland geborene Ukrainerin, die in Elsfleth aufwächst. Wie schon vor der Geburt begleiteten die Helferinnen und Helfer die kleine Familie auch nach der Niederkunft. Julia erfuhr während einer Krankheit liebevolle Zuneigung. So entstand über Wochen und Monate eine enge Verbindung zum Deutschen Roten Kreuz, die sichtbar Ausdruck fand mit der Übergabe eines Teddybären an Nikas 1. Geburtstag durch DRK-Geschäftsführer Peter Deyle. Herr Deyle hat der Familie schmunzelnd erklärt, dass es in vielen deutschen Familien Tradition ist, einem Kleinkind einen Teddy mit dem Knopf im Ohr zu schenken. Und dann notierte Julia überglücklich den 26. Dezember, den 2. Weihnachtstag in Deutschland. Vater Alexander hatte sich in der Heimat bei seinem Lieblingssport Eishockey, eine Verletzung zugezogen. Das lädierte Bein musste operiert werden, Alexander wurde dienstunfähig geschrieben, die Ausreise wurde möglich, zum ersten Mal sah er seine kleine Tochter Nika. „Sie ist jetzt ein Jahr alt, lernt ihre ersten Schritte zu machen und die ersten Wörter zu sprechen“, erzählt die Mama, die mittlerweile auch schon etwas deutsch spricht, stolz Dolmetscherin Natalia Eisenmann.